Contergan-Geschädigte: Kaputte Körper und wenig Geld | Notizbuch | Bayern 2 | Radio | BR.de.
Welchen Preis sie für ihr selbstständiges Leben zahlen müssen, wird vielen Contergan-Geschädigten jetzt erst klar: körperliche Folgeschäden – verursacht durch jahrzehntelange Fehlbelastung. Gerontologen der Universität Heidelberg haben die aktuelle Lebenssituation der Contergan-Geschädigten untersucht und empfehlen eine Erhöhung der Renten.
Autor: Franziska Haack Stand: 01.02.2013
Contergan-Opfer Andreas Meyer protestiert 2009 vor der Konzernzentrale von Grünenthal in Stolberg | Bild: picture-alliance/dpa
Wenn der Familienausschuss des Deutschen Bundestags am heutigen Freitag tagt, werden die Besucherreihen anders besetzt sein als gewöhnlich: Menschen mit kurzen Armen, fehlenden Beinen oder Gehörlose – allesamt Contergan-geschädigt. Über 200 der insgesamt 2.400 Betroffenen aus ganz Deutschland wollen anreisen. Denn bei der Anhörung geht es um sie – genauer gesagt: um ihre Lebenssituation. Der Bundestag muss sich mit der Folgeschäden-Problematik befassen, weil die Rente der Contergan-Geschädigten seit Jahren aus Steuermitteln bezahlt wird.
Fast alle Contergan-Opfer leiden an Folgeschäden
Hintergrund
Contergan-Pillendose und Schachtel | Bild: picture-alliance/dpa Contergan Geschichte eines Skandals
Neben verschiedenen Interessensvertretern tritt auch Professor Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, als Redner auf. Im Januar veröffentlichte sein Institut eine Studie über Contergan-Opfer. Aus der Studie geht unter anderem hervor, dass Fehl- und Überbelastung nicht nur die vorgeburtlichen Missbildungen verschlimmert haben, sondern auch zu neuen Schäden geführt haben, den sogenannten Folgeschäden:
Über 90 Prozent der Betroffenen haben heute Probleme mit Wirbelsäule und Becken, die jedoch nur bei gut der Hälfte angeboren sind.
Auch die Schädigung innerer Organe wie Herz oder Nieren ist im Laufe der Jahrzehnte von 38 auf 62 Prozent gestiegen.
Die Folgeschäden unterscheiden sich je nach Ausprägung der Behinderung: Probleme mit den unteren Extremitäten zum Beispiel treten am häufigsten bei Kurzarmern auf, da diese viel mit Füßen und Beinen kompensieren mussten.
Geschädigtenrente reicht nicht: Beispiel Lilli Eben
Lilli Eben | Bild: BR/Haack
Lilli Eben kommt allein klar – doch der Kräfteverschleiß ist enorm.
Lilli Eben (51) gehört zu den Contergan-Geschädigten mit kurzen Armen. Lange kam die Münchnerin mit ihrer Behinderung gut zurecht, als Alleinerziehende versorgte sie sich selbst und ihre beiden Kinder ohne Hilfe. Mit dem Rest ihres Körpers und einigen Hilfsmitteln konnte sie ihre kurzen Arme ausgleichen. Doch mittlerweile fallen ihr selbst einfache Tätigkeiten schwer. Manchmal kann sie nicht einmal mehr einen Löffel hochheben. Bandscheibenvorfälle, Arthrose und kaputte Zähne machen ihr zu schaffen, dazu kommen Schübe von Kraftlosigkeit und Schmerzen. Mittlerweile ist sie auf Unterstützung durch andere angewiesen. Das Problem: Ihre Geschädigtenrente reicht nicht, um sich die nötige Assistenz zu holen.
Bundestag soll Contergan-Geschädigten helfen
Sicht der Betroffenen
Was die Verbände der Geschädigten fordern, können SIe hier nachlesen:
Bundesverband Contergangeschädigter [contergan.de]
Contergan-Netzwerk Deutschland [contergannetzwerk.de]
Die Studie der Universität Heidelberg zeigt: Den meisten Contergan-Geschädigten geht es wie Lilli Eben. Sie leiden an den Folgeschäden der Behinderung, brauchen zunehmend Hilfe und leiden an chronischen Schmerzen. Die Forscher haben daher einen Katalog an Handlungsempfehlungen zusammengestellt, die den Betroffenen das Leben erleichtern sollen:
Was Contergan-Geschädigte jetzt brauchen
Aktuelle Registerkarte: Rentenerhöhung
Assistenz
Heilmittel
Hilfsmittel
Rentenerhöhung
Zunehmende gesundheitliche Einschränkungen bedeuten höhere Lebenshaltungskosten. Die Conterganrente ist wichtig, um diese zu finanzieren. Außerdem muss sie Einkommensverluste auffangen, wenn die Geschädigten nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr arbeiten können. Beides wird in nächster Zeit zunehmen, die Rente sollte daher deutlich erhöht werden. Bei über 35 Prozent der Geschädigten reicht die Rente bereits heute nicht, um ihre finanzielle Unabhängigkeit zu sichern.
Assistenz
Heilmittel
Hilfsmittel
Rente für Contergan-Opfer zahlt der Staat
Lilli Eben an ihrem Kühlschrank | Bild: BR/Haack
Hofft auf mehr Geld: Contergan-Opfer Lilli Eben.
Die 100 Millionen Mark, die Contergan-Hersteller Grünenthal als Entschädigung gezahlt hatte, waren bereits Mitte der 90er Jahre aufgebraucht. Seitdem kommt der Staat für die Renten auf. Nach der Aufregung um den Film „Eine einzige Tablette“ verdoppelte die Bundesregierung 2008 die Sätze der Contergan-Renten. Auch Grünenthal überwies weitere 50 Millionen Euro an die „Conterganstiftung für behinderte Menschen“, die für die Auszahlung der Renten zuständig ist. Die Höhe der Rente orientiert sich am Grad der Behinderung, derzeit liegt der Höchstsatz bei 1127 Euro. Die Bundesregierung könnte die Sätze nun erneut erhöhen, wie es die Gerontologen der Universität Heidelberg und die Interessensvertreter der Opfer fordern.
Der Contergan-Skandal
1957 brachte die Firma Grünenthal ein neues Schlafmittel auf den Markt. Contergan galt damals als unbedenklich und wurde speziell schwangeren Frauen empfohlen. Mit fatalen Auswirkungen, denn schon eine einzige Tablette reichte aus, um die Entwicklung eines Fötus gravierend zu beeinflussen. In der Folge kamen 5.000 bis 10.000 Kinder mit Fehlbildungen zur Welt. Erst 1961 erkannte man den Zusammenhang zwischen der Häufung behinderter Säuglinge und dem Schlafmittel. Die Firma Grünenthal musste das Mittel vom Markt nehmen.